Tanzschulen

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Yolanda Bertolaso am 14.5.05 im WDR 5

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Yolanda Bertolaso am 11.4.05

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Yolanda Bertolaso an Sylvester 2004

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Yolanda Bertolaso am 14.9.2005

Seit Jahrzehnten ungebrochen ist der immer noch zunehmende Boom der Tanzschulen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht, d. h., unter Berücksichtigung soziologischer und psychologischer Phänomene und den entsprechenden pädagogischen Perspektiven, lassen sich folgende Erklärungen dafür abgeben.

Während nach dem 2. Weltkrieg das Interesse der Überlebenden darauf aus war, die zerstörten Häuser und Lebensverhältnisse wiederaufzubauen und sich einen Wohlstand zu sichern, rebellierte die nach dem Krieg geborene studentische Jugend um 1968 gegen die tradierten Zöpfe und überholten Werte. Tabus wurden verworfen und Normen mißachtet. Hippies, Kommunen, freie Sexualität, uniforme Bluejeans-Kleidung, Leistungsverweigerung usw. gehörten zum neuen Lebensgefühl. Singen galt als verdächtig, und das Ritual im Gesellschaftstanz erschien nicht mehr zeitgemäß.

Sehr bald jedoch stellte sich heraus, daß mit der vermeintlichen Freiheit eine Menge neuer Probleme auftauchten.

Anstelle der vom Bürgertum mit seinem Humboldtschen Bildungsideal vermittelten Ausstattung "für das Leben" werden nun Kompetenzen verlangt, auf die weder das Elternhaus noch die Schule wert gelegt hatten. Die sich schnell verschärfende Kommerzialisierung und Globalisierung und die damit einhergehende Relativierung und Vernichtung tradierter Werte, die Verarmung der Gesellschaft nicht zuletzt aufgrund offensichtlicher Korruptheit der in erster Linie für sich selbst sorgenden Politiker, die Migration von Habenichtsen und Analphabeten sowie die zunehmenden Patchworkfamilien usw. bewirkten einen Zustand der Vereinsamung, Haltlosigkeit ("Bist du auch einer von zuvielen?") bis hin zur Nullbock-Mentalität und Flucht in Drogen.

Andere - und diese wurden immer mehr und nehmen offensichtlich noch weiter zu - begannen, sich der veränderten gesellschaftlichen Situation zu stellen. Sie nahmen an den massenweise angebotenen Selbsterfahrungs-/Sensivity-Trainings teil und - nachdem diese Mode abflachte und sich die Versprechungen als falsch erwiesen hatten -  wurden realistischer. Seitdem wegen des schnellen Wechsels des Wissens (z. B. EDV) Berufsabschlüsse nur noch formale Qualifikationen darstellen und seitdem die Befunde der Hirnforschung unsere Realitätswahrnehmung, das Erinnerungsvermögen, die eigene Urteilsfähigkeit und Willensfreiheit abstreiten, zählen letztlich nur noch zwei Dinge - ein einigermaßen Sicherheit verleihendes Netzwerk und die eigene Person, die so attraktiv sein muß, daß sie für ein Netzwerk überhaupt in Frage kommt, zumal ein solches wegen Mobilität und Instabilität von Beziehungen immer wieder neu geschaffen werden muß. Damit begann die Zeit der Fitness-Studios und der Kosmetiksalons und Schönheitschirurgie, die neuerdings auch Männer nutzen.

Hauptsächliche Vorbilder für die Jugendlichen sind hierbei die Videoclips der Fernsehsender MTV und VIVA. Die in den Dancecharts vorgeführten Jugendlichen sind gesund, körperlich gestylt und erotisch - meist spärlich bekleidet. Sie geben sich cool, ihre Präsentation signalisiert Selbstsicherheit und schnelles Reaktionsvermögen.

Diese, mitunter ambivalent eingeschätzten Eigenschaften aber pflegen die modernen Tanzschulen.  „HipHop ist Lebensstil, Kultur, mittlerweile KULT!“, wirbt der ADTV. Wie bereits die Anforderungen an den Tanzlehrer zeigen, wird hier großenteils auf jene Persönlichkeitsmerkmale geachtet, die in den "Big Five" (NEO-FFI) abgefragt werden und den Schlüssel für eine am unmittelbarsten Erfolg versprechende innere Einstellung und für ein dementsprechendes äußeres Verhalten ausmachen: Emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Zuverlässigkeit. Die Tanzschulen haben sich demzufolge Erziehungszielen angenommen, die in Elternhäusern, Schulen und bei Freunden nicht mehr gelernt werden. Am Ende ihres "Anti-Blamier-Programms" vergeben sie gar ein "Gesellschafts-Zertifikat. Die somit bescheinigte Parkett-Sicherheit kann dann als zusätzliches Zeugnis auch einer Stellenbewerbung beigefügt werden. Das kommt an. Sowohl bei Arbeitgebern, bei jungen Leuten, deren Eltern und Verwandten."

Wichtiger als die extrinsische Motivation dürfte jedoch das besondere Lebensgefühl sein, das die Jugendlichen beim Tanzen erfahren. Das von angenehmer Musik gelenkte, in verschiedenen Stilarten variationsreich geordnete Sichbewegen im solistischen oder führenden und führenlassenden Gleichklang mit anderen mit und ohne Anfassen wirkt wohltuend und erhebend. Die betont gelöste und humorvolle Atmosphäre, in der die im Alltagsleben ungewohnten nonverbalen kinästhetischen und oftmals knisternden Kontakte gepflegt und systematisch geschult werden, stimuliert zusätzlich die mit solcherart ästhetischem Tanzen einhergehenden neurophysiologischen Effekte (= Ausschüttung von Endorphinen, die Glücksgefühle ermöglichen) und bewirkt damit ein psychisches Hochgefühl.

Der somit großenteils prophylaktische psychotherapeutische Wert der Tanzschulen ist angesichts des - allerdings von interessierter Seite progagierten und sehr zu bezweifelnden - Ausmaßes psychischer Störungen (angeblich ein Drittel der Gesellschaft) nicht hoch genug zu veranschlagen. In der Tanztherapie zeigen sich denn auch überwiegend solche Defizite und Störungen, die  

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mit mangelndem Selbstwertgefühl ("gebrochenes Rückgrat" bzw. fehlende Vertikalität, spannungsarm - verspannt, schwer und niedergedrückt depressiv statt aufgerichtet, leicht, gelassen, zuversichtlich und euphorisch),

bulleteingeschränkte Raum- und Fremdwahrnehmung (selbstbezogenes, autistisches oder sich aufgebendes, vermeintlich altruistisches, tatsächlich dependentes und untertäniges Verhalten) und

bulletfehlendem Zeitgefühl (zu langsam, unbeweglich, starr, sich nicht entscheiden können versus ruhelos, hektisch, überstürzte Entschlüsse) einhergehen und

bulletjenen organisch-dynamischen Rhythmus und flow beeinträchtigt, der den Ereignissen und Phasen eines Tages zukommt und die notwendige Reagibilität und Flexibilität in den jeweiligen Tätigkeiten erfordert.

bulletDaß solche ungesunden Verhaltensweisen und damit verbundenen Unlust- und Schuldgefühle sich auf Dauer zu psychosomatischen Problemen entwickeln können, liegt auf der Hand.

Tanztherapie ist damit überwiegend nachträgliche Pädagogik, eine Pädagogik jedoch, die Elternhaus und Schule häufig nicht vermitteln. Die Tanzschulen nehmen somit wichtige Funktionen wahr. Eine wissenschaftlich fundierte tanzpsychologische Zusatzausbildung könnte sie darin erheblich unterstützen.

Näheres zum Tanz in Deutschland ist in den beiden Artikeln des Buches "Die dunkle Last" ausgeführt:

„Glaube und Schönheit“ - Zur Ideologisierung des Tanzes und der Körperkultur

„Glaube und Schönheit“ - was blieb? Tanzkultur nach 1945

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